Nicht erst mit dem zu erwartenden Wiederaufkommen der Forderung sog. „Killerspiele“ zu verbieten stellt sich die Frage, was der Amokläufe mit Medienkompetenz zu tun haben. Nachdem vergebens online nach einer vermeintlichen Vorankündigung für die Morde in Winnenden gesucht wurde, trugen nicht nur die oft gescholtenen Massenmedien, sondern auch die selbsternannte „Social Media Scene“ dazu bei, das Verbrechen zum medialen Mitmach-Event zu stilisieren. Der Mikroblogging/SocialChat-Dienst Twitter veranschaulicht dies sehr gut.
Verständlich ist es, dass viele ein Bedürfnis haben, sich über derartige Ereignisse auszutauschen, auch online. Doch in der Twitter-Timeline wurde aus Bericht und Diskussion schnell das Zuschaustellen von Schaulust und Suggerieren von Authentizität, indem etwa User aus Berlin oder Hamburg in „@replies“ an die Twitteraccounts von BBC, CNN oder die Bildzeitung versuchten, ihre prominenten 15 Sekunden zu erhaschen.
Die Twitterin PickiHH schrieb dazu in ihrem Blog:
Die Twitterer, das sind doch die, die sich gerne zum Kreis der digitalen Bohème zählen, die den Holzmedien gerne vorwerfen, wie sehr sich diese hinterm Berg der modernen Kommunikation befinden, die Twitterer die nahezu jedem, der die Micro- und Macrobloggerei partout nicht verstehen will mangelnde Medienkompetenz vorwerfen. Gilt das für alle Twitterer? Nein, natürlich nicht, aber für genügend. Und zwar für all die, die Medienkompetenz mit der Nutzung und dem technischen Einsatz von Tools verwechseln und nicht sehen, dass Medienkompetenz immer auch mit den Inhalten, die über diese Tools ins Internet kommen, zu tun hat.
[…]
Angesichts einer solchen Alptraum-Katastrophe, bei der Menschen ihr Leben verlieren und die pure Fassungslosigkeit und Trauer hinterlässt, scheinen manche Twitterer weiter nur das eine Ziel zu verfolgen, welches sie eh jeden Tag haben: Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit in der Timeline um jeden Preis. Nein, von einem Bürgerjournalismus sind wir weit entfernt, wir sind mitten im Bürgerboulevard, wo die letzten Hemmschwellen des geschmacklosen Sarkasmus fallen. Ja, niemand kann mit einer solchen Katastrophe vollständig richtig umgehen, weder im Print, noch im TV, noch im Internet. Und das einzige was Twitter gestern gezeigt hat ist, dass es nichts nutzt, schneller Unfähigkeit zu demonstrieren als andere Medien.
Axel Brüggemann ergänzt bei freitag.de „Früher war es die Rolle der Bild, solche Details herauszufinden – heute schreibt die Netzgemeinschaft ihren eigenen, unerbittlichen Kriminal-Boulevard.“ Doch die Verschränkung mit den „alten Medien“ ist nach wie vor vorhanden. So hat die Nutzerin „tontaube“, die als erste aus der unmittelbaren Nähe über den Amoklauf twitterte, offenbar nicht nur innerhalb eines Tages 500 neue Follower auf Twitter, sondern auch zig Anrufe von Journalist_innen bekommen. – Nicht weil sie die besseren Informationen hatte, sondern, um den Amoklauf zu als Mitmach-Medien-Ereignis zu pushen. Während im Computerspiel auf virtuelle Menschen geschossen wird, werden im medialen Amoklauf 2.0 die realen Opfer zu bloßen Vehikeln der Selbstvermarktung und Öffentlichkeit. Manche bewusst, andere offenbar selbst davon überrascht, wie „tontaube“, die der Presse per Twitter mitteilte, dass sie doch auch nichts genaues über den Täter wisse.
Einer ihrer späteren Tweets bringt es dann wirklich auf den Punkt: